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Azzie setzte sich, legte die Edelsteine vor sich und erhielt seine Karten. Am Anfang verhielt er sich vorsichtig. Es war schon ziemlich lange her, seit er das letzte Mal an einer Pokerrunde teilgenommen hatte. Diesmal war er trotz seines Glücksamuletts aus Felixit entschlossen, kein unnötiges Risiko einzugehen, nur bei guten Blättern zu reizen, im Zweifelsfall zu passen und all die anderen Dinge zu tun, die sich Pokerspieler – ob Menschen oder Dämonen – seit jeher vornehmen. Er wechselte ein paar seiner Steine in Körperteile und begann zu spielen. Und so nahm das Spiel in der vom unheimlich grünen Licht der Fackeln aufgehellten Dunkelheit seinen Verlauf, untermalt vom Gelächter und den Flüchen der Dämonen, je nachdem, wem das Glück gerade lachte.
Dämonische Pokerspieler sind lustige Gesellen, solange ihnen das Glück hold ist. Sie beginnen ihre Spiele in bester Laune, setzen ganze Menschenköpfe und erhöhen die Einsätze in fröhlicher Unbekümmertheit um Gliedmaßen. Das alles wird von der Art von Spaßen begleitet, die Dämonen ungemein witzig, andere Geschöpfe jedoch reichlich geschmacklos finden. »Möchte irgend jemand ein Heldensandwich?« fragte einer der Dämonenbediensteten, als ein Tablett mit menschlichen Körperteilen herumgereicht wurde.
Schon bald hatte Azzie alle guten Vorsätze vergessen. Er wurde unvorsichtig und reizte immer wilder und riskanter. Ständig mußte er daran denken, wie gern er an dem Böse-Taten- Jahrtausendwendebankett teilnehmen wollte. Wenn er doch nur gewinnen könnte! Er sehnte sich von ganzem Herzen danach, das Böse im Jahrtausendwettkampf zwischen Licht und Finsternis zu repräsentieren.
Unglücklicherweise aber schrumpfte sein Stapel an Körperteilen unaufhaltsam. Er wußte nur zu gut, daß er die Einsätze wild, dumm und dämonisch erhöhte, aber er konnte nichts dagegen tun. Völlig im Bann des Spiels gefangen, registrierte er kaum, daß es immer die größeren Dämonen zu sein schienen, die die lohnenden Gewinne einstrichen. Was war nur mit seinem Felixit nicht in Ordnung? Wieso gewann er nie einen der großen Einsätze?
Dann kam ihm schließlich die Erkenntnis, daß alle Dämonen Glückstalismane trugen, und je bedeutender ein Dämon war, desto besser war natürlich auch der Glücksbringer, den er sich leisten konnte. Die Vermutung lag auf der Hand, daß die Talismane der anderen den seinen neutralisierten. Wieder einmal wurde er gnadenlos über den Tisch gezogen! Das war undenkbar und äußerst ungerecht.
Die Nacht verging wie im Flug, und irgendwann bemerkte Azzie ein schwaches Glühen am östlichen Horizont. Schon bald würde die Morgendämmerung hereinbrechen, und das Spiel würde beendet werden, es sei denn, irgend jemand hatte einen Schlüssel zu einer Privatgruft. Zu diesem Zeitpunkt hatte Azzie bereits den größten Teil seines anfänglichen Vermögens verloren.
Wut und Kummer stiegen in seinem Fuchskopf auf. Das Blatt, das er in der Hand hielt, war wieder eine Niete, ein Zweierpärchen und drei mittlere Karten. Er wollte gerade passen und sich endgültig geschlagen geben, als ihn eine merkwürdige Ahnung überkam. Nein, eigentlich keine Ahnung, mehr ein Gefühl. Es war eine warme Ausstrahlung, deren Quelle in seinem Beutel zu stecken schien. Versuchte sein Glücksamulett vielleicht, ihm irgend etwas mitzuteilen? Ja, das mußte es sein! Und dann wurde ihm klar, daß das Felixit auf ein ganz bestimmtes Blatt warten würde, wenn es ihm wirklich helfen wollte, um erst dann seine ganze Kraft einzusetzen, damit er diese eine Runde gewann.
Plötzlich war er sich dessen so sicher, daß er rücksichtslos alles auf sein schlechtes Blatt setzte und immer weiter erhöhte.
Er erhielt seine letzten Karten, sah sie aber gar nicht mehr an und trieb den Einsatz statt dessen noch mehr in die Höhe.
Und dann war der entscheidende Augenblick gekommen. Als Azzie sein Blatt auf den Tisch legte, stellte er fest, daß er ein weiteres Zweierpärchen zu dem ersten Pärchen dazubekommen hatte. Zwei Pärchen, wollte er zuerst sagen, bevor er begriff, daß es ein Vierling war. Kein anderer Spieler hatte ein auch nur annähernd gleichwertiges Blatt. Die anderen grollten und warfen ihre Karten weg. Der Pot, der größte der ganzen Nacht, ging an Azzie.
Neben einem Haufen Goldmünzen, Edelsteinen und den unterschiedlichsten Körperteilen bestand der Gewinn aus einem Schwert mit abgebrochener Klinge, um dessen Griff ein Damentüchlein aus roter Seide geschlungen war, und einem Paar Menschenbeinen in sehr gutem Zustand, kaum angenagt. Dazu kam noch eine beträchtliche Menge an Kleinzeug, Fingerknöchel, Gewebescheidewände und ein Satz Kniescheiben, die Azzie in Gold eintauschte.
Als echter Dämon, der er nun einmal war, hätte Azzie normalerweise bis zum letzten Penny oder Körperteil weitergezockt, aber die Sonne lugte bereits vorsichtig über den östlichen Horizont, und es wurde Zeit, den Friedhof zu verlassen. Also verstaute Azzie seinen Gewinn in einer Tasche aus derbem Segeltuch, die er genau zu diesem Zweck mitgebracht hatte. In seinem Kopf begann langsam eine Idee, Gestalt anzunehmen. Noch war sie ziemlich verschwommen, aber irgend etwas regte sich.
LOBGESÄNGE
KAPITEL 1
Nachdem er die Pokerrunde verlassen hatte, flog Azzie nordwärts. Er hatte beschlossen, der großen Dämonenversammlung einen Besuch abzustatten, die als Teil der Eröffnungszeremonien zum Jahrtausendwettkampf bei Aachen stattfand, der alten Hauptstadt Karls des Großen. Allerdings wurde er von einem starken Gegenwind aufgehalten. Auch wenn man unsichtbar und eher schlank ist, kann das den Luftwiderstand nicht aufheben. Gegen Abend war er erst bis Ravenna gekommen. Er entschied, auf die Teilnahme an der Versammlung zu verzichten, und fand einen hübschen Friedhof vor den Stadtmauern, wo er Rast machte.
Es war ein angenehmer Ort mit einer Menge großer alter Bäume, Eichen und Weiden, eine hübsche Kombination – und natürlich Zypressen, den erhabenen Totenbäumen des Mittelmeers. Es gab schöne zerfallene Gräber und Mausoleen. In der Ferne konnte Azzie die zusammengesackten Umrisse der aus Graustein errichteten Stadtmauern erkennen.
Er machte es sich vor einer verwitterten Grabtafel bequem. Was er jetzt noch benötigte, war ein behagliches Feuer. Also plünderte er ein in der Nähe gelegenes Mausoleum, wo er ein paar außerordentlich trockene Kadaver fand. Mit ihnen und einigen toten Katzen, die von einem umtriebigen Katzenhasser aus der Stadt vergiftet worden waren, entfachte er das Feuer.
Während die Nacht verstrich, stellte Azzie fest, daß er hungrig wurde. Zwar hatte er im Verlauf des Pokerspiels recht gut gegessen, und Dämonen können lange Zeiträume zwischen den Mahlzeiten überstehen, aber den ganzen Tag lang gegen den Wind anzufliegen, hatte seinen Appetit angeregt. Also leerte er seinen Beutel aus und vergewisserte sich, was er noch an Proviant hatte.
Ah, da waren ein paar kandierte Schakalköpfe, die er auf dem Fest eingesteckt hatte, in einen Fetzen modriges Leichentuch eingewickelt. Es waren köstliche Snacks, aber sie reichten nicht aus, um seinen Hunger zu stillen. Er durchwühlte den Sack weiter und entdeckte das Beinpaar, das er gewonnen hatte.
Die Beine sahen appetitlich aus, aber eigentlich wollte er sie nicht essen. Er erinnerte sich, bei ihrem Anblick eine undeutliche Idee in sich aufkeimen gespürt zu haben, auch wenn er sie schon wieder vergessen hatte. Trotzdem glaubte er, etwas Sinnvolleres mit ihnen anfangen zu können, als sie einfach zu verspeisen, und so lehnte er sie gegen einen Grabstein. Ihr Anblick erweckte in ihm das fast unwiderstehliche Bedürfnis, einen Monolog über sie zu halten. Den Dämonen dieser Zeitepoche erschien es überhaupt nicht seltsam, ein paar hundert Meilen zurückzulegen, nur um ein wirklich geeignetes Objekt zu finden, das zu Selbstgesprächen Anlaß gab. In diesem einsamen hochgelegenen Landstrich Italiens, wo ein heftiger Wind wehte und das ferne Bellen von Schakalen erklang, war das eine besonders angenehme Übung.
»O ihr Beine«, begann Azzie, »ich würde wetten, daß ihr der Dame eures Herzens zum Gefallen voll Anmut wandeltet und euch auch galant verbeugtet, denn ihr seid ein Paar muskulöser und doch gewandter Beine von der Art, auf die die Damen voller Wohlgefallen schauen. O ihr Beine, ich stelle euch mir jetzt vor, gespreizt im uralten Taumel der Wonne und dann verschlungen beim letzten Aufbäumen der Liebe. Als ihr jung wart, o ihr Beine, habt ihr viele stattliche Eichen erklommen, seid geschwind den Ufern vieler strömender Bäche gefolgt und hurtig über die freundlichen grünen Felder eures Heimatlandes gelaufen. So darf ich wohl sagen, daß ihr in kühnem Schwung über manch Gestrüpp und Hecken hinwegsetzt, während ihr euch euren Weg bahntet. Kein Pfad war euch zu lang, und niemals seid ihr ermüdet.«
»Glaubst du?« fragte eine Stimme irgendwo über und hinter Azzie. Der Dämon drehte sich um und erblickte die düster gekleidete Gestalt von Hermes Trismegistus. Es überraschte ihn nicht, daß der Magier ihm hierher gefolgt war. Hermes und die anderen alten Götter schienen einen anderen Weg als Dämonen und Menschen zu beschreiten, einen Weg, für den solche Dinge wie Gut und Böse von keinerlei Bedeutung sind.
»Schön, dich wiederzusehen, Hermes«, sagte Azzie. »Ich habe gerade über dieses Beinpaar philosophiert.«
»Ich habe nicht vor, dich davon abzuhalten«, versicherte Hermes. Er hatte knapp zwei Meter über Azzies Kopf in der Luft geschwebt. Jetzt sank er elegant zu Boden, beugte sich vor und begutachtete die Beine.
»Welcher Art von Mann, glaubst du, haben die gehört?« erkundigte er sich.
Azzie drehte sich um und betrachtete die Beine nachdenklich. »Offensichtlich einem fröhlichen Mann, denn sieh her, sie sind noch immer mit farbenfrohen Wollbändern der Art umwickelt, die es Gecken und selbstgefälligen Burschen angetan hat.«
»Ein Geck, meinst du?«
»Mit ziemlicher Sicherheit, denn schau, wie prächtig die Waden geformt sind, wie perfekt und fein die Muskeln der Oberschenkel. Auch dürften dir die kleinen Füße und ihre hohe aristokratische Wölbung auffallen, die wohlgepflegten Zehen und die gleichmäßig geschnittenen Zehennägel. Darüber hinaus gibt es keine nennenswerten Schwielen an den Fersen oder an den Seiten. Dieser Bursche mußte nicht viel arbeiten, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, jedenfalls nicht mit den Füßen. Wie, glaubst du, ist er gestorben?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Hermes. »Aber wir können es schnell herausfinden.«
»Beherrschst du irgendeinen Trick?« fragte Azzie. »Irgendeine Form der Beschwörung, die der Masse der gewöhnlichen Dämonen unbekannt ist?«
»Nicht umsonst bin ich der Schutzheilige der Alchemisten«, erklärte Hermes, »die mich anrufen, wenn sie ihre Mixturen zusammenmischen. Sie versuchen, einfaches Metall in Gold zu verwandeln, ich aber kann aus totem Fleisch lebendige Erinnerung machen.«
»Das scheint mir ein nützlicher Trick zu sein«, sagte Azzie. »Kannst du ihn mir demonstrieren?«
»Mit Vergnügen«, erklärte sich Hermes sofort einverstanden. »Laß uns sehen, wie diese Beine ihren letzten Tag verbracht haben.«
Wie bei dererlei Beschwörungen üblich, entstand eine Rauchwolke aus dem Nichts, und das Dröhnen eines Messinggongs erklang. Während Azzie zusah, teilte sich der Rauch, und er sah…
… einen jungen Prinzen, der in die Schlacht zog, um das Schloß seines Vaters zu verteidigen. Er war ein hübscher junger Mann und gut ausgestattet für das Kriegerhandwerk. Er ritt an der Spitze seiner Truppen, die einen beeindruckenden Anblick boten. Ihre scharlachroten und gelben Banner flatterten prächtig im Sommer wind. Dann entdeckte Azzie eine andere Armee voraus. Der Prinz zügelte sein Roß und rief seinen Majordomus zu sich.
»Dort sind sie«, verkündete der Prinz. »Jetzt haben wir sie genau zwischen einem Felsen und einem harten Eisklumpen, wie man in Lappland zu sagen pflegt.«
Bis dahin konnte Azzie das Geschehen verfolgen, dann verblaßte das Bild vor seinen Augen.
»Kannst du erkennen, welches Schicksal ihn ereilt hat?« fragte er.
Hermes seufzte, schloß die Augen und legte den Kopf in den Nacken.
»Ah«, sagte er, »ich habe mich in die Schlacht eingeschaltet, und welch eine herrliche Auseinandersetzung bewaffneter Männer das ist! Sieh, wie wild sie sich aufeinanderstürzen, hör, wie die kunstvoll geschmiedeten Schwerter singen! Ja, jetzt prallen sie zusammen, und alle kämpfen sie tapfer und gewandt. Aber was ist das…? Einer der Männer hat den Kreis der Kämpfenden verlassen. Er ist nicht einmal verwundet, aber schon flieht er! Ist es der ehemalige Besitzer dieser Beine?«
»So ein Feigling!« schrie Azzie, denn ihm war, als könnte er die Schlacht selbst mitverfolgen.
»Aber er kommt nicht ungeschoren davon. Er wird von einem Mann verfolgt, dessen Augen vor Blutdurst gerötet sind, ein riesiger Mann, ein Berserker, einer von denen, gegen die die Franken seit Jahrhunderten kämpfen und die sie die Verrückten aus dem Norden nennen!«
»Ich mag die nördlichen Dämonen auch nicht sonderlich«, bekannte Azzie.
»Der Berserker holt den feigen Prinzen ein. Sein Schwert blitzt auf – ein waagrechter Schlag, mit einer unheimlichen Kombination aus Geschicklichkeit und Wildheit geführt.«
»Das ist einer der schwierigsten Schläge«, kommentierte Azzie.
»Der Schlag wird gut ausgeführt – der hasenfüßige Prinz wird zerteilt. Die obere Körperhälfte rollt durch den Staub, aber seine feigen Beine rennen noch immer, rennen jetzt vor dem Tod davon. Vom Gewicht der oberen Körperhälfte befreit, rennen sie leichtfüßig, auch wenn ihnen allmählich die Energie ausgeht. Aber wieviel Energie benötigt ein Beinpaar, um zu laufen, wenn sich niemand mehr an seinem oberen Ende befindet? Die rennenden Beine werden mittlerweile von Dämonen verfolgt, da sie bereits die Grenzen des Normalen überschritten und das grenzenlose Reich des Möglichen betreten haben, das die Welt des Übernatürlichen ist. Und jetzt, endlich, machen sie ihre letzten stolpernden Schritte, drehen sich, schwanken und stürzen leblos zu Boden.«
»Kurz gesagt, wir haben hier die Beine eines Feiglings vor uns«, stellte Azzie fest.
»Ohne Zweifel ein Feigling, aber eine Art göttlicher Feigling, der selbst noch im Tod vor dem Tod davonläuft, so sehr fürchtete er sich davor, daß das eintreten könnte, was tatsächlich eingetreten ist.«