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KAPITEL 5
Rosenrot schritt vor Ylith auf und ab und blieb dann kurz stehen.
»Ich bin es leid, immer nur zu schlummern«, beschwerte sie sich und nahm ihre ruhelose Wanderung wieder auf.
»Nie scheine ich richtig wach zu sein«, fuhr sie fort, »und trotzdem kann ich keine Nacht fest durchschlafen. Ich muß irgend etwas anderes tun, außer einfach in diesem doofen Schloß herumzusitzen und darauf zu warten, daß mich irgendein Kerl aufweckt. Ich will hier raus! Ich will mit irgend jemandem sprechen!«
»Du kannst mit mir sprechen«, erwiderte Ylith.
»Ach, Tante Ylith, du bist sehr nett, und ich würde endgültig den Verstand verlieren, wenn du nicht hier wärst. Aber ich würde mich gern mit jemand anderem unterhalten. Du weißt schon… mit einem Mann.«
»Ich wollte, ich könnte dir helfen«, versicherte Ylith. »Aber du weiß, daß du keine Gesellschaft haben sollst. Du sollst einfach nur schlafen, bis der Märchenprinz hier auftaucht.«
»Ich weiß, ich weiß«, sagte Rosenrot. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Aber es ist so langweilig, die ganze Zeit nur zu schlafen. Und dann noch nicht einmal richtig. Schlummern! Ach, bitte, Tante Ylith, kannst du mir denn nicht irgendwie helfen?«
Ylith überlegte. Ihre Verärgerung über Azzie wuchs. Sie hätte es besser wissen müssen, als ihm wieder zu vertrauen. Aber daran konnte sie jetzt nichts mehr ändern.
Am nächsten Tag klopfte es am Tor. Es geschah während einer der seltenen Momente, in denen Rosenrot wach war, und sie eilte hinunter, um selbst zu öffnen.
Vor der Tür stand ein knapp zwei Meter großer Frosch in einer Dienerlivree. Eine weiße Perücke saß etwas schief auf seinem warzigen grünen Kopf.
»Hallo«, sagte Rosenrot ruhig. Allmählich gewöhnte sie sich an magische Besuche. Es konnte sie kaum noch etwas überraschen nach ihren Gesprächen mit Azzie – der sehr seltsam war und immer in plötzlich aus dem Nichts auftauchenden Rauchwolken erschien und wieder verschwand und Ylith, die viel Zeit vor einem magischen Spiegel verbrachte, in dem sie die Leute aus der Stadt am Fuß des Berges und viele andere Ort beobachtete (einschließlich der Unterwelt und der niedrigen astralen Reiche). »Seid Ihr der Prinz, der mich aufwecken soll?«
»Um Himmels willen, nein!« entgegnete der Frosch. »Ich bin nur ein Bote.«
»Aber unter Eurer Frosch Verkleidung seid Ihr in Wirklichkeit ein stattlicher junger Mann, nicht wahr?«
»Ich fürchte, nein«, sagte der Frosch. »Man hat mich durch Zauberei zwei Meter groß gemacht und mich in die Lage versetzt, die Menschensprache zu beherrschen.«
»Wie seht Ihr aus, wenn Ihr nicht verzaubert seid?«
»Dann bin ich eine Handspanne groß und quake.«
»Was willst du?« fragte Prinzessin Rosenrot enttäuscht.
»Ich überbringe Euch eine Einladung.« Er hielt ein rechteckiges Stück Pappe hoch, in das folgende Mitteilung eingeprägt war:
IHR SEID ZU EINEM FEST EINGELADEN EIN MASKENBALL ZU EHREN VON ASCHENBRÖDEL UND IHREM PRINZEN MUSIK VON ORLANDO UND DIE WILDEN GIORDANO BRUNO UND DIE TRADITION DES LUFTLEERENRAUMS SPARTAKUS UND DIE REVOLTIERENDEN SKLAVEN SCHARADEN, GROSSE TOMBOLA GESCHMACKVOLLE ORGIE
»Oh, vielen Dank!« rief Rosenrot. »Aber warum hat Prinzessin Aschenbrödel mich eingeladen? Ich kenne sie ja nicht einmal.«
»Sie hat gehört, daß Ihr hier seid, und Eure mißliche Lage tut ihr leid. Sie hatte früher selbst so ihre Probleme, müßt Ihr wissen.«
»Ich würde liebend gern kommen! Aber ich habe kein Ballkleid.«
»Ihr könnt Euch bestimmt eins besorgen.«
»Und die Fahrt… Wie soll ich dort hinkommen?«
»Setzt Euch einfach mit dem Zauberballdienst in Verbindung, und man wird mich zur rechten Zeit mit einer Kutsche zu Euch schicken, die aus einem Kürbis gemacht wurde.«
»Oh… aber werde ich dann nicht mein Kleid mit Kürbissaft beschmutzen?«
»Auf keinen Fall. Das Innere ist mit kostbarster gewässerter Seide ausgekleidet.«
»Gewässert?«
»Sie ist trocken, macht Euch deswegen keine Sorgen.«
»Vielen Dank! Vielen Dank!« Rosenrot hastete davon, um Ylith von der wunderbaren Einladung zu erzählen.
»Gemach, Kind, Azzie hat das gesamte Schloß mit einem Zauberbann belegt«, gab Ylith zu bedenken. »Es wäre eine Generalvollmacht erforderlich, um dich hier rauszubringen. Und die kann nur von den Mächten der Finsternis ausgestellt werden.«
»Was kann ich denn tun?«
»Nichts, mein armer Liebling«, erwiderte Ylith. »Wenn du allerdings Azzies unbegrenzte Kreditkarte hättest«, überlegte sie laut, »wäre einiges möglich. Und er trägt sie ganz sorglos in seiner Westentasche. Du mußt nur hoffen, daß er sie bei seinem nächsten Besuch ablegt. Dann kannst du sie dir nehmen, bevor er sie vermißt.«
»Aber was, wenn er sie nicht ablegt?«
»Deine eigenen Hände könnten dir helfen«, sagte Ylith. »Besonders deine linke.«
Rosenrot betrachtete ihre Hände. Die linke, diejenige der Taschendiebin, war ein wenig kleiner als die rechte und sah irgendwie – Prinzessin Rosenrot wußte nicht, wie sie es bezeichnen sollte – gerissener als die andere aus.
»Was ist mit meiner linken Hand? Ich kann sehen, daß sie klein und wahrscheinlich auch feinfühlig ist. Aber was hat es mit ihr auf sich?«
»Diese Hand hat eine besondere Begabung, dir zu besorgen, was du brauchst.«
»Und wenn ich die Karte hätte?«
»Nun, dann könntest du dir ein Ballkleid bestellen und dich mit dem Zauberballdienst in Verbindung setzen. Dann könntest du auf den Ball gehen, vorausgesetzt, du kommst gleich danach zurück.«
»Warum erzählst du mir das alles?«
Ylith wandte den Blick ab. »Aus Zorn und Mitleid, Liebes«, erwiderte sie schließlich. »Das erste ist eine Stärke, das zweite eine Schwäche. Nimm also an, daß es sich hauptsächlich um ersteres handelt. Außerdem wird es Zeit, daß du etwas über Bälle lernst. Und über den freien Willen.«
Sie tätschelte Prinzessin Rosenrots linke Hand, der es dabei fast gelang, ihr einen Diamantring vom Finger zu streifen. »Ja«, fuhr sie fort, »zur Hölle mit Azzie.« Und dann lächelte Ylith. »Das ist ein Akt der Gnade für dich.«
KAPITEL 6
Als Azzie das nächste Mal zu Besuch kam, lächelte Prinzessin Rosenrot über das ganze Gesicht. Sie plauderte über ihre Träume, die das einzige Interessante in ihrem täglichen Leben waren. Dann zeigte sie Azzie einige Tanzschritte, an die sie sich aus der Zeit vor ihrem Tod erinnern konnte. Sie tanzte wie entfesselt einen Seguidilla, ihre kleinen Füße trommelten über den Boden, drehten Pirouetten und ließen sie durch den Raum wirbeln und in Azzies Armen landen.
»Laß mich dich umarmen, Onkel!« rief sie. »Du hast so viel für mich getan!«
Azzie spürte den Druck ihrer kleinen spitzen Brüste, und die Berührung lenkte ihn von dem ab, was ihre geschickten schlanken Finger taten.
»Hast du sie?« erkundigte sich Ylith, nachdem sie mit Rosenrot allein war.