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Lancelot liest beim Frühstück Zeitung. Kommt er morgens herunter, sehe ich nur kurz sein hageres Gesicht mit dem stets mürrischen und leicht verwirrten Ausdruck. Er nimmt schweigend Platz und greift sofort nach der Zeitung, die aufgeschlagen für ihn bereitliegen muß.
Danach kommt nur sein rechter Arm hinter der Zeitung hervor, um sich eine zweite Tasse Kaffee geben zu lassen, die einen gestrichenen Teelöffel Zucker enthält - nicht mehr und nicht weniger, sonst trifft mich ein strafender Blick.
Ich habe mich allmählich daran gewöhnt. Wir frühstücken wenigstens in Ruhe.
An diesem Morgen wurde das Schweigen jedoch plötzlich durchbrochen, als Lancelot laut sagte: »Großer Gott! Paul Farber, dieser Trottel, ist gestorben. Schlaganfall!«
Der Name kam mir bekannt vor. Lancelot hatte ihn erwähnt, und ich wußte, daß es sich um einen Kollegen, um einen Physiker handelte. Aus der Bemerkung meines Mannes schloß ich, daß Farber mäßig berühmt gewesen sein mußte; er hatte offenbar erreicht, was Lancelot versagt geblieben war. Lancelot ließ die Zeitung sinken und starrte mich wütend an. »Warum sind Nachrufe immer mit Lügen gespickt?« wollte er wissen. »Sie machen einen zweiten Einstein aus ihm, nur weil er einen Schlaganfall gehabt hat.« Ich wußte aus Erfahrung, daß Nachrufe ein gefährliches Thema waren, und nickte deshalb nicht einmal zustimmend.
Er warf die Zeitung auf den Tisch und stapfte wütend hinaus, ohne seine zweite Tasse Kaffee zu trinken.
Ich seufzte. Was blieb mir sonst übrig? Was blieb mir jemals übrig? Mein Mann heißt natürlich nicht Lancelot Stebbins; ich habe Namen und Tatort geändert, um Schuldige zu schützen. Entscheidend ist jedoch, daß niemand meinen Mann erkennen würde, selbst wenn ich seinen richtigen Namen gebraucht hätte.
Lancelot hatte in dieser Beziehung ausgesprochen Talent - er wurde stets übersehen und übergangen. Seine Entdeckungen kamen unweigerlich einige Tage zu spät und wurden nicht beachtet, weil eine wichtigere Entdeckung veröffentlicht wurde. Auf Kongressen waren seine Vorträge schlecht besucht, weil zur gleichen Zeit in einem anderen Raum ein wichtigerer Vortrag gehalten wurde.
Das wirkte sich selbstverständlich auf ihn aus. Es veränderte ihn. Als wir vor sechsundzwanzig Jahren heirateten, war er eine glänzende Partie. Er hatte ein Vermögen geerbt und schien dazu bestimmt zu sein, auf seinem Fachgebiet viel zu erreichen. Ich war damals hübsch, aber trotzdem nicht die gesellschaftlich repräsentative Frau, die Lancelot gebraucht hätte. Vielleicht hat das dazu beigetragen, daß Lancelot übersehen wurde. Hätte er eine andere Frau geheiratet, wäre er vielleicht erfolgreicher gewesen. Er war sich darüber im klaren, und diese Tatsache führte nach zwei oder drei glücklichen Jahren zu einer allmählichen Entfremdung. Ich machte mir deswegen bittere Vorwürfe, erkannte jedoch später, daß seine Unzufriedenheit vor allem darauf beruhte, daß er nie berühmt geworden war. Er verließ die Universität, an der er gelehrt hatte, und baute sich weit außerhalb der Stadt ein Laboratorium, um in Ruhe arbeiten zu können. Geld spielte dabei keine Rolle, denn er arbeitete mit Staatsmitteln und war selbst vermögend.
Ich versuchte zu widersprechen, aber Lancelot ließ sich auf seiner Jagd nach dem Ruhm nicht beirren. »Es gibt wichtigere Dinge als Kinder und ein normales Familienleben«, erklärte er mir. »Die Wissenschaft soll mich als... als großen Erfinder kennenlernen.«
Damals schreckte er noch davor zurück, sich als Genie zu bezeichnen. Aber alle Anstrengungen blieben vergeblich; Lancelot wurde vom Pech verfolgt. In seinem Labor herrschte ständig Hochbetrieb; er bezahlte seinen Assistenten Spitzengehälter; er arbeitete selbst Tag und Nacht. Der Erfolg blieb trotzdem aus.
Ich hoffte noch immer, er werde dieses Leben eines Tages aufgeben und mit mir in die Stadt zurückziehen. Aber Lancelot gab nicht auf; nach jeder Niederlage begann ein neuer Sturm auf die Bastionen des Ruhms. Er griff hoffnungsvoll an, um wenig später verzweifelt seine Niederlage einzugestehen.
Und dann mußte ich dafür büßen. Wenn Lancelot schlecht behandelt worden war, konnte er schließlich auch mich schlecht behandeln. Allmählich kam ich zu der Überzeugung, ich müsse ihn verlassen. Und doch...
In diesem letzten Jahr bereitete er sich offenbar auf eine neue Schlacht vor. Auf die letzte, dachte ich. Diesmal war er nervöser als je zuvor. Er arbeitete tagelang, ohne zum Essen zu kommen und schloß seine Notizen nachts in seinem Schlafzimmer ein, als fürchtete er selbst seine Assistenten. Ich war selbstverständlich davon überzeugt, daß auch dieser Versuch fehlschlagen würde. Aber dann würde er hoffentlich einsehen, daß dies in seinem Alter die letzte Chance gewesen war. Dann würde er endlich aufgeben.
Deshalb beschloß ich zu warten.
Aber die Sache mit dem Nachruf beim Frühstück kam einigermaßen überraschend. Ich hatte bei ähnlicher Gelegenheit einmal festgestellt, daß er zumindest mit einiger Anerkennung in seinem Nachruf rechnen könne. Das war keine sehr kluge Bemerkung, aber dafür habe ich eben kein Talent. Und vielleicht hatte ich ihn damit ein wenig ärgern wollen.
Jedenfalls ließ er sofort die Zeitung sinken. Sein hageres Gesicht war vor Wut verzerrt, als er kreischte: »Aber ich kann meinen Nachruf nicht lesen! Sogar das wird mir vorenthalten!«
Und dann spuckte er mich an. Er spuckte mir ins Gesicht.
Ich lief hinaus.
Lancelot entschuldigte sich nie dafür, und wir setzten unser Leben fort, als sei nie etwas geschehen.
Nun stand wieder ein Nachruf in der Zeitung.
Ich hatte das Gefühl, der Höhepunkt einer fortwährenden Krise stehe unmittelbar bevor. Ich wußte nicht, ob ich ihn begrüßen oder fürchten sollte.
Aber vielleicht war die Krise doch eher zu begrüßen, denn jede Veränderung mußte eine Wendung zum Besseren sein.
Kurz vor dem Mittagessen kam Lancelot ins Wohnzimmer, wo ich mit meinem Nähkorb saß, und sagte abrupt: »Ich brauche deine Hilfe.«
Das hatte ich seit über zwanzig Jahren nicht mehr von ihm gehört, und ich nickte bereitwillig. »Gern«, antwortete ich, »wenn ich etwas für dich tun kann.«
»Du kannst. Ich habe meinen Assistenten vier Wochen Urlaub gegeben. Sie haben ab Samstag frei, und dann können wir beide im Labor arbeiten. Ich informiere dich schon jetzt, damit du dir nichts für nächste Woche vornimmst.«
Ich starrte ihn an. Er war sichtlich erregt. »Aber du weißt doch, daß ich dir nicht bei deiner Arbeit helfen kann, Lancelot«, sagte ich leise. »Ich verstehe nichts davon und...«
»Das weiß ich«, unterbrach er mich, »aber du brauchst nichts davon zu verstehen. Du sollst nur tun, was ich dir zeige. Ich habe endlich die große Erfindung gemacht, die mich... «
»O Lancelot!« rief ich unwillkürlich, weil ich diese Behauptung von früher her kannte.
»Hör zu, du Närrin, und benimm dich gefälligst wie eine Erwachsene! Diesmal habe ich es wirklich geschafft. Diesmal kommt mir keiner zuvor, weil ich das einzige Genie bin, das diese Entdeckung hätte machen können. Und wenn ich sie veröffentliche, müßte ich zu den Großen der Wissenschaft gehören.«
»Das ist aber schön, Lancelot.«
»Ich müßte zu ihnen gehören, habe ich gesagt. Wissenschaftliche Leistungen werden nicht immer anerkannt. Das habe ich oft genug am eigenen Leib gespürt. Deshalb darf ich die Entdeckung nicht einfach nur veröffentlichen, denn sonst stürzen sich alle darauf, und ich muß den Ruhm mit einem halben Dutzend Nachzügler teilen.«
Lancelot machte eine bedeutungsvolle Pause. »Meine Entdeckung soll förmlich über die Menschheit hereinbrechen, so daß später niemand auf die Idee kommen kann, meinen Ruhm zu schmälern.«
Er meinte es ernst, und ich fürchtete die Folgen einer neuen Enttäuschung. Würde sie ihn zum Wahnsinn treiben? »Was soll das alles, Lancelot?« fragte ich ihn. »Warum plagst du dich so? Warum machst du nicht lieber Urlaub? Wir könnten nach Europa...«
Er stampfte mit dem Fuß auf. »Schweig!« brüllte er mich an. »Am Samstag kommst du mit mir ins Labor, verstanden?«
In den folgenden drei Nächten schlief ich schlecht. Lancelot war noch nie wie jetzt gewesen. War er vielleicht schon verrückt? Seine Verrücktheit war das Resultat jahrelanger Enttäuschungen, und der Nachruf hatte den entscheidenden Anstoß gegeben. Er hatte seine Assistenten fortgeschickt und wollte mich ins Labor mitnehmen. Bisher hatte ich es nie betreten dürfen. Er wollte bestimmt mit mir experimentieren oder mich gleich umbringen.
Alles das ging mir nachts durch den Kopf, und ich überlegte, ob ich die Polizei anrufen oder gar fortlaufen sollte. Aber dann wurde es doch Samstag, ohne daß ich einen dieser Pläne verwirklicht hätte. Statt dessen ging ich schweigend neben Lancelot her durch den Garten zum Labor. Das Labor wirkte erschreckend genug, und ich blieb ängstlich an der Tür stehen, aber Lancelot sagte: »Keine Angst, dir passiert nichts, solange du tust, was ich dir erkläre.«
»Ja, Lancelot.« Ich ließ mich in einen kleinen Raum führen, an dessen Tür ein großes Schloß hing. Hier standen viele merkwürdige Apparate in einem Gewirr aus Drähten und Kabeln.
»Siehst du diesen Eisentiegel?« fragte Lancelot.
»Ja, Lancelot.« Der große Tiegel war außen angerostet und stand unter einem Drahtgeflecht. Als Lancelot mich zu ihm führte, sah ich, daß der Tiegel eine weiße Maus enthielt, die uns aufmerksam ansah. Ich erschrak, denn ich kann keine Mäuse sehen.
»Sie tut dir doch nichts«, knurrte Lancelot. »Bleib dort drüben an der Wand und sieh her.«
Ich hatte Angst und schloß die Augen, weil ich fürchtete, Lancelot wolle irgendeinen teuflischen Plan verwirklichen. Aber ich hörte nur ein leises Zischen; dann sagte Lancelot zu mir: »Na?«
Ich öffnete die Augen. Er lächelte stolz. Ich starrte ihn verständnislos an. »Hier, siehst du das nicht, dumme Gans? Siehst du das nicht?« fragte Lancelot wütend.
Links neben dem Eisentiegel stand ein zweiter. Ich hatte nicht gesehen, daß Lancelot ihn dort abgestellt hatte. »Meinst du den zweiten Tiegel?« fragte ich.
»Das ist kein gewöhnlicher zweiter Tiegel, sondern eine Kopie des ersten«, erklärte er mir. »Die beiden sind völlig identisch, das sieht man an den Rostflecken.«
»Hast du den zweiten aus dem ersten gemacht?«
»Ja, aber auf besondere Weise. Zur Erzeugung von Materie sind normalerweise unvorstellbar hohe Energiemengen notwendig. Selbst bei bestem Wirkungsgrad müßten hundert Gramm Uran gespalten werden, um ein Gramm Materie zu erzeugen. Das Geheimnis meiner großen Erfindung beruht darauf, daß die Verdopplung eines Gegenstandes an einem Punkt in der Zukunft nur wenig Energie erfordert. Und da ich diesen Gegenstand in der Zukunft herstelle und in die Gegenwart transportiere, habe ich gleichzeitig das Problem der Zeitreise gelöst, meine Liebe.« In seiner Triumphstimmung benützte er sogar diesen Ausdruck für mich, den ich seit Jahren nicht mehr gehört hatte.
»Wunderbar«, sagte ich, denn ich war tatsächlich beeindruckt. »Ist die Maus auch da?« Ich sah in den zweiten Tiegel und entdeckte darin - eine tote Maus.
»Das ist nicht zu ändern.« Lancelot zuckte verlegen mit den Schultern. »Wenn ich Lebewesen zurückhole, sind sie unweigerlich tot.« »Oh, wie schade. Warum?«
»Das weiß ich noch nicht«, antwortete Lancelot. »Man sieht ihnen jedenfalls nichts an.«
»Du könntest doch einen...« Ich sprach nicht weiter, denn ich wußte, daß es zwecklos war, Lancelot zu empfehlen, er solle einen Biologen hinzuziehen. »Ich habe bereits einen Fachmann gefragt«, erklärte Lancelot mir säuerlich, »aber er hat auch nichts gefunden. Ich habe ihm natürlich nicht erzählt, wodurch die Maus verendet ist. Sogar meine Assistenten wissen nicht, woran ich arbeite.«
»Warum mußt du das so geheimhalten?«
»Weil ich vorläufig noch keine Lebewesen lebend zurückbringen kann. Dieses Problem muß noch gelöst werden, bevor ich meine Entdeckung veröffentlichen kann. Wollte ich sie schon jetzt bekanntgeben, würde irgend jemand dieses letzte Problem lösen und wahrscheinlich berühmter werden als ich.«
Das war leicht einzusehen. Ich war sogar überzeugt, daß Lancelot auch diesmal leer ausgehen würde. So war es noch immer gewesen.
»Ich kann jedoch nicht länger warten«, fuhr er fort. »Ich muß meine Entdeckung bekanntgeben und dafür sorgen, daß die Umstände dieser Bekanntgabe so dramatisch sind, daß die ganze Welt meinen Namen hört. Ich werde dieses Drama vorbereiten und selbst die Hauptrolle darin spielen.«
»Aber was soll ich tun, Lancelot?« »Du wirst meine Witwe.«
Ich umklammerte seinen Arm. »Lancelot, soll das etwa heißen, daß...« Er machte sich los. »Nur für einige Tage. Ich will nicht Selbstmord begehen. Ich transportiere mich einfach aus der Zukunft zurück.« »Aber dann bist du doch tot!«
»Nur das >Ich<, das zurückgebracht wird. Das wirkliche >Ich< bleibt lebendig wie die weiße Maus.« Er sah auf ein Meßinstrument und sagte: »Ah, jetzt ist gleich der Nullpunkt erreicht. Achte auf den zweiten Tiegel und die tote Maus.«
Die Maus verschwand vor meinen Augen. »Wo ist sie jetzt?«
»Nirgends«, antwortete Lancelot. »Sie war nur ein Duplikat. Wir haben eben den Zeitpunkt erreicht, an dem es ursprünglich entstanden ist, deshalb mußte es wieder verschwinden. Die erste Maus, die als Muster gedient hat, lebt weiter. Wir werden das gleiche Experiment mit mir durchführen. Mein Duplikat kommt dann tot zurück, während ich am Leben bleibe. Drei Tage später erreichen wir den Zeitpunkt, an dem das Duplikat wieder verschwindet, so daß nur ich übrig bin. Ist das klar?« »Es klingt gefährlich.«
»Keineswegs«, versicherte Lancelot mir. »Sobald meine Leiche erscheint, werde ich für tot erklärt; die Zeitungen bringen Nachrufe, und ein Bestattungsunternehmen trifft alle notwendigen Vorbereitungen. Aber dann kehre ich ins Leben zurück und überrasche die Welt mit meiner Entdeckung. Du kannst dich darauf verlassen, daß Lancelot Stebbins von diesem Augenblick an berühmt ist!«
»Lancelot«, sagte ich leise, »warum gibst du deine Entdeckung nicht einfach bekannt? Der Plan ist zu kompliziert und gefährlich. Allein die Bekanntgabe macht dich schon berühmt, und wir könnten vielleicht in die Stadt ziehen, um...«
»Ruhe! Du tust gefälligst, was ich dir sage.«
Ich weiß nicht, wie lange Lancelot diesen Plan gewälzt hatte, bevor der Nachruf den letzten Anstoß gab. Das soll natürlich nicht heißen, daß ich etwa an seiner Intelligenz gezweifelt hätte. Lancelot wurde geradezu vom Pech verfolgt - aber er war ohne Zweifel ein brillanter Wissenschaftler. Er hatte seinen Assistenten mitgeteilt, welche Experimente er in ihrer Abwesenheit durchzuführen gedachte. Deshalb war es nicht ungewöhnlich, daß er mit allen Anzeichen einer Zyankalivergiftung an seinem Arbeitstisch gefunden werden sollte.
»Du sorgst also dafür, daß die Polizei sofort mit meinen Assistenten in Verbindung tritt. Mein Tod soll nicht nach Mord oder Selbstmord, sondern nach einem Unfall aussehen.«
»Aber wenn sie dich finden, Lancelot?« gab ich zu bedenken. »Warum sollten sie mich finden?« knurrte er. »Wer sucht schon nach einem lebenden Original, wenn er eine Leiche vor sich sieht? Ich bleibe in meinem Versteck, wo mich keiner vermutet.« Er runzelte die Stirn. »Nur schade, daß ich dort keinen Kaffee kochen darf, bis alles vorüber ist. Aber der Kaffeegeruch wäre zu durchdringend. Nun ja, drei Tage lang werde ich es eben mit Wasser aushalten müssen.«
Ich rang nervös die Hände und sagte: »Ist der Unterschied denn wirklich so groß, wenn sie dich entdecken? Du hättest doch immerhin bewiesen, daß man... «
»Nein, das ist nicht das gleiche!« unterbrach er mich. »Dann denken alle, das Experiment sei fehlgeschlagen, und ich werde als Narr berühmt.« »Aber irgend etwas geht doch immer schief, Lancelot«, sagte ich vorsichtig. »Diesmal nicht!« explodierte er förmlich und schüttelte mich heftig. »Diesmal kann nur etwas schiefgehen, wenn du versagst. Wenn du mich verrätst, wenn du deine Rolle nicht richtig spielst, wenn du nicht genau tust, was ich dir erkläre, bringe ich dich um!«
Ich wollte mich erschrocken losreißen, aber er hielt mich fest. »Hör zu«, sagte er heiser. »Du hast mir im Lauf unserer Ehe viel geschadet, aber ich trage einen Teil dieser Schuld, weil ich dich geheiratet habe und später keine Scheidung eingereicht habe. Und jetzt habe ich endlich eine Chance, mein Leben dir zum Trotz erfolgreich zu machen. Wenn du mir diese Chance verdirbst, bringe ich dich um! Das ist mein Ernst!«
Ich war davon überzeugt. »Ich tue alles, was du mir sagst«, flüsterte ich, und er ließ mich wieder los.
Er erklärte mir seine Apparate. »Ich habe noch nie mehr als hundert Gramm transportiert«, sagte Lancelot nachdenklich. Es geht bestimmt schief, dachte ich.
Am nächsten Tag stellte er alles so ein, daß ich nur noch einen Schalter zu betätigen brauchte. Er ließ mich diese eine Bewegung endlos lange an einem anderen Schalter üben. »Verstehst du jetzt alles?« »Ja.«
»Du legst den Schalter um, sobald die Lampe aufleuchtet.« Ich nickte schweigend.
Er nahm seinen Platz ein und wartete. Er trug eine Gummischürze über dem weißen Kittel.
Das Licht flammte auf, und ich legte instinktiv den Schalter um, ohne über die Folgen nachzudenken.
Eine Sekunde lang sah ich zwei Lancelots vor mir; dann brach der neue zusammen und lag still.
»Okay«, rief der überlebende Lancelot und verließ seinen Platz. »Hilf mir! Nimm die Beine.«
Ich mußte mich beherrschen, um nicht schreiend davonzulaufen, als Lancelot seine eigene Leiche unter den Armen packte und in den Nebenraum fortschleppte. Die Leiche war noch warm, aber er ging mit ihr um, als handle es sich um einen Sack Weizen.
Im Nebenraum war ein Versuch aufgebaut, und Lancelot hatte sich große Mühe gegeben, alles möglichst naturgetreu zu machen. Auf dem Arbeitstisch stand eine Flasche Zyankali; in ihrer Nähe waren einzelne Kristalle verstreut.
Lancelot arrangierte die Leiche, als ob sie vom Hocker gesunken sei. Er verteilte weitere Kristalle auf der linken Hand, der Gummischürze und dem Kinn seines toten Doppelgängers.
»Das müßte genügen«, murmelte er. Ein letzter Blick in die Runde, dann wies er mich an: »Geh ins Haus und rufe den Arzt an. Du wolltest mir belegte Brote bringen, weil ich nicht zum Mittagessen gekommen war - und dabei hast du mich hier gefunden. Du kannst ruhig etwas kreischen, wenn du es nicht übertreibst.«
Ich fand es nicht schwierig, zum richtigen Zeitpunkt zu weinen. Mir war seit Tagen danach zumute.
Der Arzt reagierte wie erwartet. Die Zyankaliflasche fiel ihm sofort auf. Er runzelte die Stirn. »Ihr Mann war etwas leichtsinnig, Mrs. Stebbins.«
»Er hätte gar nicht allein arbeiten dürfen«, erwiderte ich schluchzend, »aber seine beiden Assistenten haben Urlaub.«
»Zyankali ist schließlich kein Kochsalz.« Der Arzt schüttelte tadelnd den Kopf. »Mrs. Stebbins, ich muß natürlich die Polizei benachrichtigen, obwohl es sich um einen Unfall handelt.«
»Ja, ja, benachrichtigen Sie die Polizei«, forderte ich ihn eifrig auf. Die Polizisten kamen und brachten einen Polizeiarzt mit, der empört die Stirn runzelte, als er die Kristalle auf Hand, Schürze und Kinn der Leiche sah. Die Beamten zeigten kein großes Interesse und fragten nur nach den Lebensdaten meines Mannes und anderen unwichtigen Einzelheiten. Dann fuhren sie davon und überließen es mir, das Bestattungsunternehmen anzurufen.
Wenig später rief ich die Zeitungen und zwei Nachrichtenagenturen an. Ich erklärte ihnen, der Befund des Leichenbeschauers sei bestimmt etwas zu drastisch ausgefallen, und gab der Hoffnung Ausdruck, die Presse werde nicht etwa berichten, mein Mann sei leichtsinnig gewesen. Dann fügte ich hinzu, er sei schließlich in erster Linie Atomphysiker gewesen, und ich hätte in letzter Zeit das Gefühl gehabt, er habe irgendwelche Schwierigkeiten. Auch hier behielt Lancelot recht. Die Journalisten bissen sofort an. Ein Atomwissenschaftler in Schwierigkeiten? Spionage? Feindliche Agenten? Die Reporter belagerten unser Haus. Ich gab ihnen ein Foto, das Lancelot vor fünf Jahren zeigte, und ließ sie nach Herzenslust Aufnahmen im Labor machen. Ich schilderte ihnen Lancelots Karriere und streute einige Anekdoten ein; ich gab mir wirklich Mühe und hatte trotzdem kein Vertrauen zu der Sache.
Irgend etwas würde schiefgehen. Und dann würde er mich umbringen. Am nächsten Morgen brachte ich ihm die Zeitungen, die er mit blitzenden Augen las. Die Times widmete ihm eine ganze Spalte auf der ersten Seite. Die anderen seriösen Zeitungen hielten sich zurück, aber ein Boulevardblatt brachte als Schlagzeile: Rätsel um Tod eines Atomwissenschaftlers. Lancelot las mir alle Nachrufe begeistert vor und meinte dann zufrieden: »Glaubst du noch immer, daß irgend etwas schiefgehen kann?« »Wenn die Polizei jetzt wissen will, weshalb du Schwierigkeiten hattest...«, sagte ich zögernd.
»Du hast dich vage ausgedrückt und kannst ihr antworten, ich sei in letzter Zeit nervös oder übernächtigt gewesen. Bis die Polizei sich zu weiteren Nachforschungen entschließt, ist es zu spät.«
»Lancelot, wenn du endlich berühmt bist, kannst du dich doch zur Ruhe setzen, nicht wahr?« fragte ich hoffnungsvoll. »Dann können wir irgendwo ruhig in der Stadt leben.«
»Dummkopf!« antwortete er verächtlich. »Siehst du nicht ein, daß ich dann weiterarbeiten muß? Das Labor wird zu einem Institut für Zeitforschung ausgebaut, und ich werde die hoffnungsvollsten jungen Wissenschaftler um mich versammeln. Dann wird die Welt endlich einsehen, welcher Platz mir in Wirklichkeit gebührt.« Er richtete sich mit blitzenden Augen auf, als sei er sein eigenes Denkmal auf einem Sockel.
Ich bat den Bestattungsunternehmer, die Leiche im Laboratorium aufbahren zu dürfen, bevor sie im Familiengrab beerdigt wurde. Ich bat ihn, sie nicht einzubalsamieren, und bot ihm an, sie bei null Grad Celsius aufzubewahren. Ich bat ihn, sie nicht in die Leichenhalle zu überführen. Der Bestattungsunternehmer erklärte sich zögernd damit einverstanden, was sich ohne Zweifel in seiner Rechnung niederschlagen würde. Meine Erklärung, ich wolle die Leiche bis zuletzt bei mir haben und Lancelots Assistenten Gelegenheit geben, sie nochmals zu sehen, war lahm und klang lahm.
Aber Lancelot hatte mir genau vorgeschrieben, was ich zu sagen hatte. Als die Leiche aufgebahrt worden war, ging ich zu ihm in sein Versteck. »Lancelot«, sagte ich, »der Bestattungsunternehmer war sichtlich mißtrauisch.«
»Ausgezeichnet«, meinte Lancelot zufrieden. »Aber... «
»Wir brauchen nur noch einen Tag zu warten. In dieser kurzen Zeit kann ein bloßer Verdacht noch nicht zu einem Entschluß führen. Die Leiche müßte morgen früh verschwinden.« »Ist das etwa nicht sicher?« fragte ich entsetzt.
»Es kann früher oder später sein. Ich habe keine Erfahrung mit so schweren Gegenständen. Schon deshalb wollte ich die Leiche hier im Labor haben.« »Aber in der Leichenhalle würdest du vor Zeugen verschwinden.« »Und hier ist das Verschwinden nicht zu beweisen, meinst du?« »Ganz recht«, stimmte ich zu.
Lancelot lächelte ironisch. »Keine Angst, das ist durchaus beabsichtigt. Sobald ich mit meiner Entdeckung an die Öffentlichkeit trete und tot gewesen zu sein behaupte, werden meine Kollegen mich als Betrüger und Scharlatan bezeichnen. Innerhalb einer Woche kennt dann jeder meinen Namen; die Menschen werden kein anderes Gesprächsthema mehr haben. Und dann demonstriere ich vor Wissenschaftlern und Fernsehkameras meine Methode, während Milliarden gespannt zusehen. Ist das nicht ein absoluter Höhepunkt?«
Ich war im Augenblick so verblüfft, daß ich zustimmend nickte, aber eine Stimme in meinem Inneren sagte: Zu umständlich, zu kompliziert, irgend etwas geht bestimmt schief.
Am gleichen Abend kamen die beiden Assistenten und versuchten bekümmert oder erschüttert zu wirken, als sie vor dem offenen Sarg standen. Wieder zwei Zeugen, die beschwören konnten, daß sie Lancelot tot gesehen hatten; zwei weitere Zeugen, die dazu beitragen würden, daß der Höhepunkt erreicht wurde.
Am nächsten Morgen standen wir um vier Uhr in Wintermäntel gehüllt im Gefrierraum und warteten auf den entscheidenden Augenblick.
Lancelot überprüfte seine Instrumente immer wieder, ohne mir zu erklären, was er tat. Sein Kleincomputer war ständig in Betrieb, obwohl ich nicht weiß, wie er bei dieser Temperatur die Tasten bedienen konnte.
Mir war erbärmlich zumute. Ich litt unter der Kälte, mußte an die Leiche im Sarg denken und fragte mich, was die Zukunft bringen würde.
Wir waren schon eine Ewigkeit in der Kammer, als Lancelot zufrieden feststellte: »Alles klappt wie vorhergesehen. Bei einer Masse von fünfundsiebzig Kilogramm verschwindet das Versuchsobjekt spätestens in zehn Minuten. Meine Analyse der Zeitkräfte ist tatsächlich meisterhaft gelungen.« Er bedachte mich mit einem Lächeln, das ich mir jedoch mit seiner Leiche teilen mußte.
Mir fiel auf, daß sein weißer Kittel, den er seit drei Tagen trug, auffällig zerknittert war. Lancelot schien meinen Blick bemerkt zu haben, denn er sagte plötzlich: »Ah, richtig, ich muß noch die Gummischürze anlegen.
Mein zweites Ich hat sie getragen, als es erschien.«
»Und wenn du das vergessen hättest?« fragte ich tonlos.
»Ich wäre irgendwie daran erinnert worden«, versicherte er mir. Er warf mir einen nachdenklichen Blick zu. »Glaubst du noch immer, daß irgend etwas schiefgehen muß?«
»Ich weiß nicht«, murmelte ich.
»Glaubst du, daß die Leiche nicht verschwinden wird - oder daß ich statt dessen verschwinden werde?« Als ich keine Antwort gab, fuhr er lauter fort: »Kannst du nicht begreifen, daß ich endlich nicht mehr vom Pech verfolgt werde? Merkst du nicht, daß bisher alles ohne zu stocken genau nach Plan verlaufen ist? Und dann bin ich der größte Wissenschaftler aller Zeiten!« Er wurde etwas ruhiger. »Komm, setz Wasser für Kaffee auf«, verlangte er. »Damit können wir feiern, wenn mein Doppelgänger uns verläßt, so daß ich ins Leben zurückkehren kann. Ich habe seit Tagen keinen Kaffee mehr getrunken.«
Im Labor stand nur ein Glas Pulverkaffee, aber nach dreitägiger Enthaltsamkeit würde auch das genügen. Ich versuchte den Schalter der Heizplatte mit vor Kälte steifen Fingern zu drehen, bis Lancelot mich zur Seite stieß und das Wasser selbst aufsetzte.
»Es dauert einige Zeit«, sagte er und stellte die Platte auf drei. Er warf einen Blick auf seine Uhr und studierte dann wieder die Instrumente an der Wand.
»Bevor das Wasser kocht, ist alles vorbei«, versicherte er mir. »Komm her, sonst siehst du nichts.« Er trat näher an den Sarg mit seiner Leiche heran. Ich zögerte noch. »Komm!« forderte er mich energisch auf. Ich kam gehorsam.
Er betrachtete seine Leiche mit zufriedenem Gesicht und wartete ungeduldig. Wir starrten beide die Leiche an.
Dann zischte es wieder, und Lancelot rief: »Nur zwei Minuten früher als erwartet.«
Die Leiche war spurlos verschwunden.
Der offene Sarg enthielt die Kleidungsstücke, die Lancelots Doppelgänger getragen hatte. Seine Kleidung war wirklich und blieb deshalb in der Wirklichkeit zurück. Die Unterwäsche steckte unter Hemd und Hose; über dem Hemd lag die Krawatte; Krawatte und Hemd lagen unter der Jacke. In den Schuhen steckten noch die Socken. Die Leiche war verschwunden. Ich hörte Wasser sieden.
»Kaffee«, sagte Lancelot. »Zuerst eine Tasse Kaffe, dann rufen wir die Polizei und die Presse an.«
Ich machte zwei Tassen Kaffee fertig. In Lancelots Tasse befand sich ein gestrichener Löffel Zucker - nicht weniger und nicht mehr. Obwohl es unter diesen Umständen bestimmt keine Rolle spielte - Lancelot würde kaum darauf achten -, war die Gewohnheit stärker.
Ich schlürfte meinen Kaffee, den ich wie immer ohne Milch und Zucker trank. Er wärmte mich fast augenblicklich.
Lancelot rührte seinen Kaffee um. »Endlich«, sagte er leise, »endlich bin ich am Ziel.« Er lächelte triumphierend, setzte die Tasse an seine Lippen und nahm einen großen Schluck. Das waren seine letzten Worte.
Als nun alles vorüber war, begann ich fieberhaft zu arbeiten. Ich brachte es irgendwie fertig, Lancelot die Kleidungsstücke aus dem Sarg anzuziehen. Ich schaffte es sogar, ihn in den Sarg zu heben und darin auszustrecken. Ich faltete ihm die Hände über der Brust.
Dann wusch ich beide Kaffeetassen und die Zuckerdose sorgfältig aus. Ich spülte sie immer wieder ab, bis das Zyankali, das ich statt Zucker benützt hatte, aufgelöst und davongeschwemmt worden war. Ich trug seinen Laborkittel und die übrigen Kleidungsstücke zu dem Schrank, in dem die Kleidung seines Doppelgängers gehangen hatte. Der zweite Satz Kleidungsstücke war verschwunden, und ich hängte den ersten an die gleiche Stelle. Dann wartete ich.
Gegen Abend, als ich wußte, daß die Leiche kalt genug war, rief ich das Bestattungsunternehmen an. Warum sollten die Angestellten sich wundern?
Sie erwarteten eine Leiche und fanden eine Leiche. Die gleiche Leiche. Tatsächlich die gleiche Leiche. Sie enthielt sogar Zyankali, das die erste Leiche nur scheinbar enthalten hatte.
Ich nahm an, daß der Unterschied zwischen einer zwölf Stunden alten und einer dreieinhalb Tage alten Leiche, die im Kühlraum gelegen hatte, festzustellen sein mußte - aber wer würde schon darauf achten? Niemand achtete darauf. Die beiden Männer verschlossen den Sarg und transportierten ihn ab. Ich hatte den perfekten Mord begangen. Ich fragte mich allerdings, ob es wirklich ein Mord war, denn Lancelot war bereits für tot erklärt worden, als ich ihn vergiftete. Ich habe selbstverständlich nicht die Absicht, einen Rechtsanwalt danach zu fragen. Ich lebe jetzt glücklich und zufrieden. Ich habe genügend Geld. Ich gehe oft ins Theater. Ich bin mit Freunden zusammen.
Und ich lebe ohne Gewissensbisse. Lancelot wird natürlich nie als Erfinder einer Zeitmaschine berühmt werden. Wenn das Problem der Zeitreise eines Tages gelöst wird, bleibt der Name Lancelot Stebbins weiterhin unbekannt. Aber ich habe ihm gleich gesagt, daß er keinen Erfolg haben würde. Hätte ich ihn nicht ermordet, wäre sein Plan auf andere Weise fehlgeschlagen -und dann hätte er mich umgebracht. Nein, ich lebe ohne Gewissensbisse.
Ich habe Lancelot sogar alles verziehen, alles bis auf die Sekunde, in der er mich angespuckt hat. Deshalb ist es eine Ironie des Schicksals, daß dieser Mann eine Chance hatte, die nur er zu würdigen wußte. Obwohl er mich damals beschimpft und angespuckt hatte, brachte Lancelot es fertig, seinen eigenen Nachruf zu lesen.